Ein (Irr)Weg zur Persönlichkeitsentwicklung?

Kann man Pessimismus fasten, also bewusst auf Pessimismus verzichten? Die evangelische Kirche empfiehlt dies zumindest im Jahr 2020 für die Zeit von Aschermittwoch bis Ostern. „Zuversicht: Sieben Wochen ohne Pessimismus“ so lautet die Überschrift auf evangelisch.de. Was ist von dieser Empfehlung zu halten? Als Coach habe ich es ja oft mit den Themen ‚Zuversicht‘ und ‚gelingendes Leben‘ bzw. mit deren Erlangung zu tun. In einem Punkt bin ich (leider) ziemlich zuversichtlich: Der kirchliche Fasten-Aufruf macht mich nicht arbeitslos.

Der Pessimismus, also die negative Grundhaltung dem Leben und die Schwarzseherei der Zukunft gegenüber, ist schädlich. Er mag begründet sein oder auch nicht, seine Wirkung auf Tatkraft und lösungsorientiertes, kreatives Denken ist verheerend. Er schadet damit auch dem Selbstbewusstsein und der Persönlichkeitsentwicklung. Pessimismus produziert nur Verlierer. Wer von ihm beherrscht wird, bzw. wer sich von ihm beherrschen lässt, dem entgehen Glücksmomente. Darüber hinaus werden all jene, die es mit pessimistischen Zeitgenossen zu tun haben, leicht angesteckt oder im eigenen bereits vorhandenen Pessimismus bestärkt.

Pessimismus ist hartnäckig

Ja, Pessimismus ist wirklich ein teures Übel, das sich nicht so einfach loswerden lässt. Das liegt zum einen daran, dass er sehr oft seine Wurzeln tief im Selbstbild, Menschenbild und Weltbild seines Trägers hat. Er ist dann die Brille, durch die man alles betrachtet. Er ist gleichzeitig ein innerer Meinungsmacher. Er befeuert Vorurteile, Ablehnung und Ängste.

 

Zum anderen ist Pessimismus sehr oft ‚salonfähig‘. Er gehört ‚zum guten Ton‘; er ist oft der Grundton, über dem der frustrierte und frustrierende Chor der Nörgler und Nachplapperer seine langweiligen Liedchen singt. Fast komme ich mir selbst wie ein Pessimist vor, wenn ich feststelle und aufschreibe, dass es doch besonders leicht und darum natürlich weit verbreitet ist, es sich in einer pessimistischen Grundhaltung einzurichten.

Der Pessimist macht sich und seine Umwelt glauben, er sei ein Realist. Dabei wird er aus den täglichen Nachrichten reichlich mit ‚Fakten‘ gefüttert, die Abwärtstrend und Untergang als plausibelste Szenarien zeichnen. So verleiht der Pessimismus seinen Trägern und Sprachrohren (oder heißt es Sprachröhren?) das Gefühl, dazuzugehören, wohl informiert und kritisch, wenn nicht gar abgebrüht und souverän zu sein. – Eines steht aber fest: Ein Gewohnheitspessimist ist weder cool noch souverän.

Alternativen zum Pessimismus

Nun aber zurück zum Aufhänger dieses Artikels, dem protestantischen Fastenvorschlag: „Sieben Wochen ohne Pessimismus“. Wenn man etwas verändern möchte, dann ist es gut zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Die evangelische Kirche bietet als Zielinspiration einen Kalender mit schönen Gedanken und schönen Bildern. Der soll die Fastenden bis Ostern dabei unterstützen, pessimismusfrei zu leben. Das ist immerhin ein Anfang, denn kaum etwas lässt sich ersatzlos streichen. Man muss schon etwas Attraktives bieten, das die entstehende Lücke zu füllen vermag. Dass man aber mit intellektueller Wohlstandsidylle andere Menschen erreicht als diejenigen, die sowieso schon von guten Mächten treu und still umgeben sind, bezweifle ich.

Optimismus

Als Alternative zum Pessimismus drängt sich verständlicherweise unmittelbar der Optimismus auf. Aber Vorsicht: Optimismus zieht man sich nicht an, wie ein paar neue Schuhe, schon gar nicht als eingefleischter Pessimist. Sich Optimismus vornehmen hieße, ein Pessimist im zweckoptimistischen Gewandt sein. Außerdem ist die Wendung von einem Extrem zum anderen selten von dauerhaftem Erfolg gekrönt. Evolution ist allemal tragfähiger als Revolution.

 

Dass eine pessimistisch geprägte Persönlichkeit große Schwierigkeiten hat, sich als Optimist im Leben zurecht zu finden, liegt vor allem daran, dass sie hierzu vieles aufgeben müsste, was ihr bis dahin das Gefühl von Halt und Sicherheit im Leben gegeben hat, als da wäre:

  1. die Gewohnheit, mit den Pessimisten im jeweiligen sozialen Umfeld einer Meinung zu sein und nicht für naiv gehalten zu werden oder sich für eine abweichende optimistische Meinung rechtfertigen zu müssen – (Diese Gewohnheit spricht allerdings für eine gehörige Portion Naivität. Es ist blauäugig, den Pessimismus und pessimistische Schlussfolgerungen nicht kritisch zu betrachten.)
  2. die Gewissheit, das Schlimmste schon gedanklich vorweggenommen zu haben und der Glaube, darum vor größeren Enttäuschungen und negativen Überraschungen gefeit zu sein – (Diese Gewissheit trügt. Wenn es am Ende wirklich schlimm kommt, ist der Pessimist nicht besser dran als der Optimist.)
  3. das Gefühl, ein reifer Mensch zu sein, der seine Augen nicht vor den unangenehmen Tatsachen und Perspektiven des Lebens verschließt – (Das ist mehr Wunschdenken als ein wirkliches Gefühl. Gefahren zu erkennen allein, ist noch kein hinreichendes Merkmal von Reife. Die Wahrnehmungen und Interpretationen des Pessimisten sind einseitig auf das Schlimmste fokussiert und darum alles andere als reif.)

Eine pessimistische Grundhaltung in lebendigen Optimismus zu überführen, ist, nach meiner Erfahrung wenn überhaupt, dann nur als Folge eines langen – lebenslangen – Prozesses möglich. Ein anderes Ziel halte ich sowohl für erreichbarer als auch für erstrebenswerter: Wie wäre es mit Possibilismus?

Possibilismus

Der Pessimist sagt: Alles wird schlecht. Der Optimist sagt: Alles wird gut. Beide irren sich vermutlich sehr häufig. Schauen wir uns also eine alternative dritte Haltung an, die die Vorzüge beider Extreme, die Zuversicht des Optimisten und das Realismusbedürfnis des Pessimisten vereint und gleichzeitig darum bemüht ist, die Nachteile der beiden Grundhaltungen, Naivität und Verzagtheit, klein zu halten: Der Possibilsimus.

Der Possibilist sagt ungefähr Folgendes: Die Lage ist ernst. Es gibt aber vermutlich einen Weg. Lasst ihn uns suchen und Schritt für Schritt gehen.

Als Possibilist bewahrt man sich zum einen die Hoffnung auf einen guten Ausgang, zum anderen ist man stets darum bemüht, vorhandene Spielräume zu erkennen und zu nutzen. Während der Pessimist, seine Mitmenschen entmutigt und der Optimist von kritischen Zeitgenossen leicht für weltfremd gehalten wird, vermag es der Possibilist, durch seine respektvolle Haltung den drohenden Gefahren gegenüber und durch sein beharrliches Suchen nach Lösungswegen, immer wieder aufs Neue sich selbst und die anderen zu motivieren.

 

Wenn es dann wirklich zur Katastrophe kommt, hat der Possibilist die besten Voraussetzungen die Situation zu meistern, denn eine seiner wichtigen Fähigkeiten bei der Suche nach Spielräumen besteht darin, Mögliches von Unmöglichem, Veränderbares von schicksalhaft Gesetztem zu unterscheiden. In letzterem Fall bleibt ihm immer noch der Spielraum, seine Einstellung zu ändern. Siehe hierzu Existenzanalyse und Logotherapie.

Pessimismus loswerden

Wenn wir Pessimismus als Haltung der Hoffnungslosigkeit übersetzen wird deutlich, weshalb die Aufforderung, doch einmal für sieben Wochen auf ihn, den Pessimismus, zu verzichten, höchst problematisch ist: „Verzichte einfach mal für sieben Wochen darauf, keine Hoffnung zu empfinden.“ Hoffnungslosigkeit ist aber nichts, was man sich bewusst und freiwillig ausgesucht hat. Das Schlimme an der Hoffnungslosigkeit ist ja gerade, dass man sich nach ‚Hoffnung‘ sehnt. Ein weiterer Übersetzungsversuch, der die Absurdität des Fastenaufrufs zeigt kann darum folgendermaßen lauten: „Sei einfach hoffnungsvoll und zuversichtlich und hör, zumindest bis Ostern, auf, verzagt zu sein und dich nach Hoffnung zu sehnen.“ Nein, nein, so funktioniert das offensichtlich nicht. Was kann man da machen? Wie wird man einen Mangel los, der die eigene Persönlichkeit bis in tiefe Schichten durchzieht, ja geradezu auszumachen scheint?

Ich habe im Vorangegangenen bereits Hinweise gegeben, die zu einem erfolgreichen Weg und zur Überwindung des Pessimismus führen können. Wenn wir davon ausgehen, dass hinter Unzufriedenheit und negativer Weltsicht im tiefsten Grunde der Person eine Sehnsucht nach Verbesserung, nach Sicherheit, nach Verbundenheit und nach Wachstum steht, dann haben wir hier den Ausgangspunkt und Motor für Persönlichkeitsentwicklung schlechthin. Die Sehnsucht mag im Einzelfall wie ein Samenkorn unter einem alptraumhaft schweren Haufen aus Dreck und Geröll eingeklemmt liegen. Sie ist aber da. Sie ist die Trägerin ungeahnter Kräfte. Sie ist mit Sinnen ausgestattet, die dazu im Stande sind, in allen Richtungen nach gangbaren Wegen und neuen Räumen, nach Spielräumen zu tasten. Die ‚Funktionsweise‘ der Sehnsucht ist eindeutig possibilistisch. Damit möchte ich sagen, dass der possibilistisch eingestellte Mensch ‚stimmig‘, d. h. seiner menschlichen Natur entsprechend, ausgerichtet ist.

Mit Life-Coaching-Platituden und Psycho-Wellness allein kommt man nicht ans Ziel. Diese können natürlich angenehme Entspannung und hilfreiche Impulse liefern. Sie mögen auch motivierende Begleiter sein. Nötig ist dann aber in jedem Fall die Bereitschaft, wirklich ans Eingemachte zu gehen, (Denk)Gewohnheiten kritisch zu prüfen, Veränderungen zu riskieren und an sich selbst zu arbeiten.

Eine auf eine possibilistische Grundhaltung ausgerichtete Willensbekundung könnte wie folgt lauten:

„Ich bemühe mich, pessimistische Reflexe kritisch zu hinterfragen. Pessimismus ist nämlich eine dumme Angewohnheit, die weder mir noch der Sache gut tut. Ich möchte versuchen, Unangenehmes, das ich nicht verändern kann, zu akzeptieren, kreativ nach Spielräumen zu suchen und dort, wo ich sie entdecke, das Beste daraus zu machen.“

Was denken Sie? Würden Sie sich als Pessimist, Optimist oder Possibilist bezeichnen? Ihre Meinung und Ihre Kritik interessieren mich sehr. Schreiben Sie mir gerne. Möglicherweise habe ich den einen oder anderen Gedankengang in diesem Artikel zu kurz ausgeführt, oder ich habe vielleicht falsche Schlüsse gezogen. Ihre Rückmeldung ist mir deshalb wirklich wichtig.


Ich wurde auf die Fastenaktion in einem Radiobeitrag des Deutschlandfunks aufmerksam.