Wurzeln in Familie und Kindheit

Im ersten Teil dieses Artikels habe ich angedeutet, dass sich die Grundlagen des Selbstwertgefühls in den ersten Lebensjahren entwickeln. Diese Erkenntnis soll im Folgenden weiter ausgeführt und konkretisiert werden.

Jeder Säugling, jedes Kind, jeder erwachsene Mensch hat körperliche und existenzielle Grundbedürfnisse. Die Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse, Nahrung, Wärme u. ä. ist nicht Thema dieses Artikels. Ich setze sie als Basis und Begleiterscheinung der Befriedigung der existenziellen Bedürfnisse voraus.

Es sind die existenziellen Grundbedürfnisse, die den Menschen auszeichnen. Ihre Befriedigung stellt die motivationale Basis für ein sinnstrebiges und sinnerfülltes Leben dar. Ihre Frustration mündet in unterschiedliche Einschränkungen und Belastungen, die sämtlich mit Selbstwertgefühlsproblemen einhergehen.

Die Eltern, erste und höchste Instanz

Die bedeutendsten Personen für Säuglinge und Kleinkinder sind üblicherweise deren Eltern. Am Vorbild der Eltern und an deren Verhalten lernen die Kinder die Einführungslektionen des Lebens. Sie werden dabei zum einen vom menschlichen Wissensdurst und der Suche nach Antworten auf existenzielle Fragen wie „Wer bin ich?“ und „Wie funktioniert die Welt?“ geleitet. Zum anderen streben sie danach, von den Eltern gutgeheißen und beschützt zu werden. So übernehmen sie elterliche Werte und verinnerlichen sowohl Verhaltensregeln als auch Bewertungen der eigenen Person.

Speziell im zuletzt Genannten, dem Verinnerlichen von Bewertungen der eigenen Person, ruht große Gefahr für das Selbstwertgefühl. Das Bedürfnis des Kindes, es seinen Eltern recht zu machen, stellt ein Tor dar, durch das äußerliche Bewertungen zu innerlichen Überzeugungen werden können. Im Idealfall gelangen durch dieses Tor stärkende Botschaften in das sich entwickelnde Selbstbild des Kindes. In leider sehr häufigen ungünstigen Fällen wird hier aber der Keim für lebenslang wirkende Selbsterniedrigung und Selbstkritik gepflanzt. Das geschieht, wenn Kinder von Ihren Eltern (oder anderen Respektspersonen) Sätze wie die Folgenden zu hören bekommen:

  • Das kannst du eh nicht.
  • Das verstehst du sowieso nicht.
  • Lass das. Du machst doch immer alles kaputt.
  • Wie kann man nur so dumm sein.
  • Lass mich in ruhe, du gehst mir auf die Nerven.
  • Du kannst nicht gut singen / rechnen / Sprachen lernen. Das liegt bei uns in der Familie.

Gefährlich werden Sätze wie diese dann, wenn sie regelmäßig auftreten und wenn das Kind keine starken Botschaften erhält, die ihm alternative, positive Selbsterkenntnisse ermöglichen. Der Mensch ist ja nicht nur ein auf Harmonie bedachter, unkritischer Lerner. Er trägt in sich auch den Trotzkopf und Rebellen. Diese auf Eigenständigkeit und Revolution bedachte Eigenschaft kann aber leicht unterdrückt werden oder durch ungünstige Einflüsse eine schädliche Wirkrichtung erhalten.

Deformationen des Gefühls

Im Folgenden habe ich Ihnen eine Auswahl häufiger „Verletzungen“ und Ursachen aufgeführt, die zu einem geschwächten Selbstwertgefühl führen können:

  • „Du bist schlecht, du genügst nicht unseren Anforderungen.“ – Wer als Kind verinnerlicht hat, schlecht oder ungenügend zu sein, der kann nicht JA zu sich selbst sagen. Die Folge ist entweder Perfektionismus und Streben nach Unantastbarkeit oder Rückzug und Selbstverkleinerung.
  • Fehlende Liebe, Anerkennung, Wertschätzung der individuellen Persönlichkeit – Wenn wir als Kinder die Erfahrung machen, dass wir nur dann geliebt werden, wenn wir nach den Vorstellungen unserer Eltern (oder Lehrer) funktionieren, dann lernen wir nicht die wichtige Fähigkeit, NEIN zu sagen. Wir werden abhängig von positiver Rückmeldung und reagieren überempfindlich bei Kritik.
  • Vergleiche und aufgezwungene Vorbilder machen klein und nicht mutig. – Die elterliche Aufforderung, sich an anderen, die es angeblich oder tatsächlich besser machen oder die angeblich besser sind, zu orientieren, bestärkt das Kind leicht in der Überzeugung, selbst nicht wertvoll / unfähig / schlecht zu sein. Kinder suchen sich ganz von allein Herausforderungen. Sie vergleichen sich ganz von selbst sehr häufig mit anderen Kindern oder Erwachsenen.
  • Wer über andere „gehoben“ wird, wird leicht überheblich und unsicher. – Kinder dürfen nicht als etwas Besseres über die anderen gestellt werden. Sie wollen/sollen/können sich ihren Platz aus eigener Kraft verdienen und werden so selbstsicherer und (zurecht) stolz auf die eigenen Leistungen.
  • Wer sich nicht über sich selbst freuen darf, wird farblos. – Vielen Kindern wird es verboten, sich übermäßig über Erfolge (gute Noten, Lob, Anerkennung) zu freuen. Dahinter steckt oft die Angst der Eltern vor aufkommender Überheblichkeit oder vor zukünftigen Enttäuschungen. Auf diese Weise werden berechtigter Stolz, sowie die Bejahung und Entwicklung der individuellen Fähigkeiten durch falsche Bescheidenheit und Selbstverkleinerung ersetzt.

Im Selbstwertgefühl-Coaching helfe ich meinen Klienten dabei, die negativen Auswirkungen von Überzeugungen, bzw. die Überzeugungen selbst zu erkennen und zu überwinden. Ursachenforschung und das Entdecken von Zusammenhängen sind wichtige Schritte auf dem Weg zu einem besseren Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Der Ausgangspunkt für diese Arbeit ist in der Regel ein Problem oder Leiden, mit dem sich die Klienten in der Gegenwart konfrontiert sehen. Nachstehend habe ich darum beispielhaft einige häufige Probleme, die viele Erwachsene und Jugendliche kennen, aufgeführt:

  • Ich habe Angst davor, anderen zu nahe zu treten. Es fällt mir schwer, mit anderen locker und doch angemessen umzugehen. Ich fürchte mich davor, Grenzen (des Anstandes) zu überschreiten und halte mich darum lieber zurück. So fühle ich mich oft als ein unzufriedener, verklemmter Beobachter.
  • Über negative Gefühle spricht man nicht. Starke Emotionen zu zeigen ist ein Zeichen von Schwäche. Am besten ist es, man fühlt sie gar nicht. So ist das Leben leichter und man funktioniert effizient. – ABER manchmal verstehe ich mich nicht. Manchmal verliere ich die Beherrschung. – Etwas stimmt nicht mit mir. Etwas fehlt mir.
  • Ich traue mich nicht, sehr gut zu sein, mich zu exponieren, Verantwortung zu übernehmen, einen eigenen Standpunkt einzunehmen und zu verteidigen. Gleichzeitig ärgert es mich, dass andere doch wirklich auch nur mit Wasser kochen. Bin ich einfach nur zu ehrlich? Ich möchte gerne groß sein, habe aber Angst davor.
  • Irgendwie habe ich immer Angst davor, ertappt zu werden. Es kommt mir so vor, als wäre ich zu unrecht da, wo ich bin. Aus diesem Grund versuche ich immer, mir und den anderen zu beweisen, dass ich ein toller Hecht bin. Das halte ich aber nicht ewig durch.
  • Ich kann mich nicht gut öffnen. Wenn ich zurückgewiesen würde oder wenn mein Vertrauen missbraucht würde, dann bräche mir das das Herz. Dabei wünsche ich mir doch eine vertrauensvolle Beziehung.
  • Bei großen Aufgaben fühle ich mich stark unter Druck und schnell überfordert. Kleine, einfache Aufgaben sind aber langweilig und unter meinem Niveau. Darum fühle ich mich oft frustriert und unsicher.
  • Ich bin unwichtig, keiner nimmt sich Zeit für mich. Das hat vermutlich seinen guten Grund. Was habe ich denn schon zu bieten?

Alle diese Ängste und Nöte hängen sehr wahrscheinlich mit einem verletzten und geschwächten Selbstwertgefühl zusammen. Sie treten möglicherweise von heute auf Morgen ins Bewusstsein. Auslöser sind Rückschläge und Enttäuschungen (Beziehungskrisen, Trennung, Verlust oder Bedrohung des Arbeitsplatzes, Krankheit, Tod eines nahen angehörigen und vieles mehr). Die Schwächung und Verletzung des Selbstwertgefühls, die es heute unmöglich erscheinen lässt, eine schwere Krise zu überstehen, ist zumeist schon vor langer Zeit angelegt worden.

Zum ersten Teil dieses Artikels:
Ursachen für ein gestörtes(!) Selbstwertgefühl– Teil 1 von 2
Was ist beim Gestörten gestört?

Alle Teile dieser Artikelserie: